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Moritatentafel „Brusler Dorscht“ von Hermenegild Peiker, 1994, DMM. Foto: Klaus Biber

Herbstgruß des Deutschen Musikautomaten-Museums

„Der Brusler Dorscht“ – eine deutsch-jüdische Heimathymne

„Jüdische Kultur“ in Deutschland, gerade vor 1933, wie ist sie zu beschreiben? Wegen ihrer Komplexität an dieser Stelle sicher nur in Teilaspekten. Und vor dem Hintergrund eines sich im späten 19. Jahrhundert formenden Antisemitismus, der unter den Nationalsozialisten und einem parallelen Antisemitismus und Faschismus in weiteren Ländern Europas bis 1945 versuchte, jüdisches Leben auszulöschen, ist dies nur mit Befangenheit zu machen. War dies ein Ende einer „Illusion von einer deutsch-jüdischen Synthese“, wie es Nachum T. Gidal in seinem Werk „Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik“ formulierte? Fakt bleibt, dass im 19. Jahrhundert eine Emanzipation der Deutschen jüdischen Glaubens begann. Es ist wichtig, dies zu betonen, um sich von einer nationalsozialistischen „Rassenpolitik“ abzugrenzen, die „Juden“ in Deutschland als eine eigene homogene „Ethnie“ definierte und ausgrenzte.

Klicken Sie auf "Play" und hören Sie den "Brusler Dorscht" gesungen von Hans Ebbecke!

Den Text und weitere Infos zur Entstehungsgeschichte des "Brusler Dorscht" gibt es auf der Homepage der GroKaGe.

Deutsch?

Schwarzweiß-Bild von Otto Oppenheimer mit Narrenkappe
Otto Oppenheimer als Mitglied der „Großen, Karnevalsgesellschaft 1879 Bruchsal e.V.“ (GroKaGe). Foto: Harry L. Ettlinger, um 1905

Doch schon die dazu parallel konstruierte Definition des „Deutschen“ leugnete die Einwanderungen in deutsche, egal ob heutige oder historische Gebiete. Angefangen von der römischen Epoche, wo sich die entlassenen Legionäre aus aller Herren Länder in Germanien niederließen, der Zeit der Völkerwanderung (Spätantike bis Frühmittelalter), in deren Laufe sich durch Zuwanderung z. B. erst die „Bajuwaren“ bildeten, und wie sich folgend das Frankenreich von der Nordsee bis ans Mittelmeer erstreckte. In dieser Zeit richtete sich ein religiöser Konflikt eher gegen die ursprünglich slawische Bevölkerung in Mittel- und Ostdeutschland, die mit Gewalt zum Christentum überführt werden sollte. So sind Berlin, Leipzig und Dresden in ihren Ursprüngen slawische Gründungen. Oder man denke an den Dreißigjährigen Krieg, bei dessen Ende Söldner aus ganz Europa in entvölkerten deutschen Regionen blieben und italienische Bauhandwerker zum Wiederaufbau von Städten und Residenzen gerufen wurden. Folgend Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, der Schweiz und Norditalien - Hugenotten und Waldenser - aufgefordert wurden zu kommen, um die „Wohlfahrt des Landes“ zu heben, gerade im wirtschaftlich wichtig werdenden Manufakturwesen (z.B. im Textilbereich). Flüchtlinge aus der französischen Oberschicht nach der Revolution 1789 wurden aufgrund ihrer Stellung gerade in den grenznahen Gebieten gerne aufgenommen. Und schließlich bleiben die in der Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert angeworbenen Arbeiter und Arbeiterinnen aus Italien, Böhmen, Polen und mit Fachkräften sogar aus England zu nennen, die halfen, den Eisenbahnbau zu bewältigen, Textil- und Montanindustrie aufzubauen. Provokativ bleibt die Frage, was heutige genetische Forschungsmöglichkeiten aus all diesem ermitteln würden.

Jüdisch?

Sepiafarbendes Bild von Dr. Hand Ebbecke mit akkustischer Gitarre in Händen
Der blinde Sänger Dr. Hans Ebbecke aus Heidelberg. Foto: unbekannt

Komplex ist auch die Genese der deutschen Juden. Schon vor der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. durch die Römer hatte mehr als die Hälfte der Menschen jüdischen Glaubens in Syrien, Babylonien, Persien, Kleinasien, Ägypten, Nordafrika, im heutigen Spanien und Frankreich gelebt. Auch im jetzigen Griechenland und Italien waren jüdische Gemeinden entstanden. 132-135 n. Chr. wagten die Juden Palästinas eine letzte blutige Revolte. Von den etwa 1,3 Millionen Einwohnern kam eine halbe Million ums Leben oder wurde versklavt. Viele Überlebende und später Freigelassene wurden 212 n. Chr. als römische Vollbürger anerkannt. Zahlreiche traten in die Legionen ein und begleiteten sie in vieler Funktion nach Germanien, Gallien und Britannien, wo sie nach Dienstende sesshaft wurden. 380 n. Chr. wurde das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt. Mit dem Kalkül mittels einer Religion die multiethnische Bevölkerung des zunehmend instabilen Reiches in einer Klammer zu einen. So geriet die jüdische Religion unter Druck. Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits nicht nur z. B. im römischen Köln eine etablierte jüdische Gemeinde auf deutschem Boden. Überspitzt formuliert waren diese schon vor den Bayern da. Doch es sei nochmals betont, dass auch hier „jüdisch“ eine Religion definierte, aber kaum eine rein konstante ethnische Linie, da wie schon beschrieben, es Menschen jüdischen Glaubens in vielen Regionen des römischen Imperiums gab, die seine Truppen an Rhein und Donau hatten begleiten können. Vergleichend spiegelt dies das Bevölkerungsbild des heutigen Staates Israel wider. So eint zwar die Religion, doch die Segmente der Einwanderer aus Europa unterscheiden sich sichtbar von jenen aus Nordafrika oder dem vorderen Orient (z. B. dem Jemen oder Äthiopien). Das Bild des „auserwählten Volkes“ und der „verlorenen Stämme Israels“ kann an dieser Stelle kaum analysiert werden. Doch sicher ist einiges davon religiöses Selbstbild, das mit dem äußeren Druck auf die Juden zur Selbstlegitimation diente.

Konflikt

Otto Oppenheimer und seine, Ehefrau in den USA, um 1950. Foto: Harry L. Ettlinger

Doch nun begann ein Dauerkonflikt, dem die jüdischen Religionsgemeinschaften im (oft unter Zwang) christianisierten Europa für Jahrhunderte bis zur Epoche der Aufklärung ausgesetzt waren. Sie gerieten zwischen die Mahlsteine christlich-klerikaler Machtinteressen und der weltlichen Fürsten. Letztere standen schon aus pragmatisch-ökonomischen Gründen ihren jüdischen Untertanen mit deren Wissen in Handel, Gewerbe und Finanzwesen eher „tolerant“ gegenüber, statteten sie aus Eigennutz teils sogar mit Privilegien aus. Diese Spezialisierung war den Juden durch Berufsbeschränkungen zugeschrieben worden, was auch darauf beruhte, im damals in Zünften reglementierten lokalen Handwerk, mögliche Konkurrenz zu minimieren. So lavierte jüdisches Leben zwischen diesen Polen: mit Duldung und Schutz, ökonomischer wie kultureller Prosperität der Gemeinden (z. B. in Speyer, Worms, Mainz oder Frankfurt/M.) aber auch Reglementierung, Ghettoisierung, Diffamierung, Pogrome, Zwangstaufen, Vertreibung und Flucht. Wie etwa in das Königreich Polen, wo sie eine orthodoxe „jiddische“ Kultur ausbildeten und mit ihrer Rückwanderung (besonders nach Berlin) nach Repressalien in einem nun russischen Gebiet ab Beginn des 20. Jahrhunderts trotz ihrer deutschen Wurzeln beargwöhnt wurden. Dem allen entsprach das Verhalten des jeweiligen Lebensumfeldes zwischen Achtung und Hass. Oft gesteuert von kirchlicher wie weltlicher Propaganda, potenziert oder relativiert durch den Zustand der Ökonomie und daraus resultierenden Politik vor Ort, die Neid und Intrige beförderten.

Annäherung

Schellackplatte „Brus’ler Dorscht“, 1920er Jahre, DMM. Foto: Klaus Biber

Entscheidend für die Situation der Juden in Deutschland wurde die Ära Napoleons, der den „Code Civil“ auch in deutschen Gebieten einführte, der nicht nur die Gleichstellung aller (männlichen) Bürger intendierte und z. B. nun eine freie Berufswahl ermöglichte, aber im Besonderen die Stellung und das Selbstbewusstsein des Bürgertums formte. Daran konnte auch die Restauration durch den Wiener Kongress 1816 und die Niederschlagung der Revolution von 1848/49 langfristig nichts ändern. Denn technischer Fortschritt und ökonomische Entwicklung in einer beginnenden Industrialisierung wurden nun meist von bürgerlichen Kreisen initiiert und getragen, die so entscheidender Motor gesellschaftlicher Entwicklungen wurden.
Neben dem Wirken Bürger jüdischen Glaubens an der wirtschaftlichen Entwicklung in Handel und Gewerbe des wilhelminischen Deutschlands, hatten sie Anteil am wissenschaftlichen wie kulturellen Bereich. In Geistes- und Naturwissenschaften, als Verleger, Kunstmäzen, in Malerei, Bildhauerei, Literatur, Musik, Theater, Film und Sport, aber auch der Jugendbewegung und Frauenemanzipation. Ebenso in Medizin und Militär. Aber auch Beamte, Handwerker, Angestellte und Arbeiter waren unter ihnen. Dies hatte die zunehmende Trennung von Staat und Religion ab Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Das speziell „jüdische“ war am Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland (oft) nur der eigene religiöse Kultus mit eigener Schriftsprache. Kurzum, die vielfach glaubensliberalen Angehörigen jüdischen Glaubens der Ober- und Mittelschicht – oft sogar atheistisch eingestellt - waren einfach Bürger ihrer Zeit. Zudem fühlten sich viele von ihnen eher „deutsch“ als „jüdisch“. Sicher bleibt die Diversität der jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder zu berücksichtigen – in eigenen Hierarchien und mit sozialen Gefällen – vergleichbar wie im katholischen oder evangelischen Milieu. Etwa in Berlin und Frankfurt/Main als große urbane jüdische Zentren oder dem sicher wohl eigenen Mikrokosmos in kleinstädtischen oder ländlichen Gemeinden in oft stärker religiös-orthodoxen Strukturen, denen eine einst „aufgeklärte“ fürstliche Politik wie auch in Baden eine Sicherheit zur Selbständigkeit und Entwicklung gewährleistet hatte. Ob aber in Stadt oder Land, jüdisches Leben war integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft.

Heimat in Bruchsal

Dieser längere (doch historisch verkürzte) Vorspann bildet den Hintergrund des „Brusler Dorscht“. Der jüdische Textilhändler und Kunstmäzen Otto Oppenheimer (1875-1951) aus Bruchsal ist ein Beispiel für die eingangs erwähnte „deutsch-jüdische Synthese“. Im Bruchsal des ökonomisch prosperierenden wilhelminischen Kaiserreichs wirtschaftlich wie gesellschaftlich etabliert, war Oppenheimer aktives Mitglied der dortigen „Großen Karnevalsgesellschaft“, der die städtischen Eliten vorstanden. In jeder Kampagne entstanden damals humoristische Lieder, die auf die Stadtgeschichte Bezug nahmen. Daran beteiligte sich auch Oppenheimer. Sein drittes Werk in diesem Rahmen war der „Brusler Dorscht“, der zuvor an seinem eigenen Junggesellenabschied 1901 erstmals Aufführung fand. Darin beschrieb er in freier humoristischer Interpretation, warum Bruchsal und der Kraichgau des Grafen Konrad (Kuno) 1056 an das Bistum Speyer überging und er seinen Landeskindern nur seinen „Höllenbrand“ hinterlassen konnte. Lied und Text wurden dann um 1912 von dem Musiker Hans Ebbecke erneut aufgegriffen. Mit der Plattenaufnahme seiner Fassung des Liedes zur Laute erhielt der „Brusler Dorscht“ einen Popularisierungsschub. Otto Oppenheimer gelang mit seiner Frau 1938 noch die Emigration über die Schweiz und Kuba in die USA, während die noch zurückgebliebenen Bruchsaler jüdischen Glaubens 1940 in das französische Konzentrationslager Gurs abtransportiert wurden.

Bruchsal stellt sich seit langem seiner historischen Verantwortung gegenüber seinen ehemals jüdischen Mitbürgern. Etwa mit den „Stolpersteinen“, die auf den Gehsteigen ihre einstigen Wohnorte – ihre engste Heimat - kennzeichnen. Gerade aber in diesem Jahr mit der Aufarbeitung nicht nur der Zerstörung der Stadt 1945, sondern ebenso mit dem politisch-historischen Kontext, in dem dies hatte geschehen können. Das Schicksal seiner einstigen jüdischen Mitbürger mit eingeschlossen. Leider wurden viele Programmpunkte der Veranstaltungsreihe „Erinnern, Verstehen – 1940/1945/2020 – Versöhnen“ durch die Corona-Pandemie vereitelt.

Das Deutsche Musikautomaten-Museum (DMM) im Schloss Bruchsal erinnert permanent in einer seiner Medienstationen an das Lied Oppenheimers. Es wird hier im Bereich der „Moritat“ aufgegriffen, dem der Stil des Liedes entspricht und für das der Künstler Hermenegild Peiker, der auch die Entrada des wiederaufgebauten Bruchsaler Schlosses ausmalte, 1994 eine entsprechende Moritatentafel schuf. Was würde Oppenheimer dazu sagen? Sein „Brusler Dorscht“ ist in seiner verlorenen Heimat weiter präsent. Dass er wohl Bruchsal nicht vergessen konnte, der von ihm erlebte Bruchsaler Karneval ihm im Exil mental immer noch ein heimatliches Refugium war, davon spricht ein Brief, den er 1950 – ein Jahr vor seinem Tod – an die „Große Karnevalsgesellschaft“ in Bruchsal richtete und darin die Entstehung des „Brusler Dorscht“ erläuterte. Auch die Bruchsaler „GroKaGe“ leistet einen Beitrag zur Erinnerungskultur an jüdisches Leben in der Stadt. So ist auf ihrer Internetseite prominent der Brief Oppenheimers von 1950 zitiert. Wer den kompletten Text des Bruchsaler Heimatliedes lernen möchte, schaue dort einmal nach.
                                                                                                           Andreas Seim

Zur Vertiefung des Themas

  • Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik mit einem Geleitwort von Marion Gräfin von Dönhoff, Könemann, Köln 1988
  • Bernt Engelmann: Du deutsch? Geschichte der Ausländer in unserem Land, Bertelsmann, München 1984
  • Bruchsaler Synagoge
  • GroKaGe Bruchsal