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Deutsches Musikautomaten-Museum

„Zeitenwende“, diesen Begriff brachte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in einer Rede in Reaktion auf den wenige Tage zuvor begonnen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in den öffentlichen Diskurs. Erst in späterer Zeit, weit nach Beendigung des kriegerischen Konfliktes und nach einem völkerrechtlichen Friedensabkommen, wird eine Bewertung des gerade aktuellen Begriffes in historischer Bewertung möglich sein. Wendezeiten – mit gesellschaftspolitischen wie ökonomischen Konsequenzen - gab es in historischer Sicht viele: die deutsch-deutsche Wende, das Ende des Zweiten und Ersten Weltkrieges. In historischer Dimension mag hier eine weitere „Wendezeit“ angeführt werden, die sich in Objekten des Deutschen Musikautomaten-Museum im Schloss Bruchsal widerspiegelt und somit indirekt aktuelles Zeitgeschehen kommentiert – etwa 200 Jahre zurückliegend: Mit kriegerischen Handlungen einer napoleonischen „Supermacht“, Zwangsbündnissen, wechselnden Koalitionen, Souveränitätsverlusten, Propaganda.

Bewegte Zeiten…
Für Baden und Württemberg waren die Jahre 1789-1815 bedeutend. Zuvor kleine Herrschaften unter vielen, wurden sie durch napoleonische Gunst souveräne Staaten, „schluckten“ zudem andere kleine Territorien, Reichsstädte und Klöster. Der „Rheinbund“, gebildet 1806 von 16 durch Napoleon begünstigten deutschen Fürsten forderte Tribut. So wurden badische und württembergische Soldaten Teil der „Grande Armée“ - des größten multinationalen Heeres Europas historischer Zeiten – und kämpften nicht nur im deutschen Raum, sondern auch in Spanien und Russland. Wie nach der Französischen Revolution 1789 rückte 1805 der deutsche Südwesten in den Fokus französischer Politik. Da Napoleon England erobern wollte, hatte dies eine Koalition mit Russland und Österreich gebildet. Frankreichs Truppen kamen bei Straßburg über den Rhein, zogen nach Augsburg, München und Ulm, um die Österreicher zu treffen. 17. 000 Soldaten marschierten durch den Südschwarzwald. In der Schlacht bei Ulm besiegten die Franzosen die Habsburger in deren „vorderösterreichischen“ Ländern. Auch Preußen musste kapitulieren und sich 1807 Napoleon fügen. 
 
Das „Fürstentreffen“ in Erfurt – darunter der neue König von Württemberg - endete 1808 mit einem Bund zwischen Zar Alexander und Napoleon, der wieder gebrochen wurde. Durch die militärische Last sank die anfängliche deutsche Sympathie für den Korsen, der mit dem „Code Civil“ die alte feudale Ordnung beendet hatte und eine kurze, aber prosperierende Friedensphase bescherte. Nach dem fatalen Russlandfeldzug und den folgenden Befreiungskriegen mit der Völkerschlacht von Leipzig 1813 sagte sich Baden von ihm los - wie Württemberg. Es trat der Koalition gegen den Korsen bei. Wieder wurde Baden Aufzugsgebiet. 1813-16 musste allein Lörrach über 410.000 Mann – darunter Preußens König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander von Russland – sowie 54.000 Pferde in Quartier nehmen.
 
Napoleons Niederwerfung und Verbannung auf Elba sowie der Wiener Kongress 1814, der alte territoriale und politische Zustände weitgehend wiederherstellte, wurde durch die „Herrschaft der 100 Tage“- die erneute kurze Machtergreifung des Korsen - ins Wanken gebracht. Die Schlacht bei Waterloo 1815 besiegelte Napoleons Schicksal mit seiner Verbannung auf die Insel St. Helena bis zu seinem Tod 1821.
 
Verklärung
Auffallend ist die Präsenz Napoleons in den Figurenautomaten des Schwarzwaldes über dessen Tod 1821 hinaus. Trotz der Kriege hatte er die Bürgerrechte gesichert und die Macht von Adel und Kirche geschwächt, was der Wiener Kongress 1814/15 nur kurz revidieren konnte. Der folgende Konflikt hatte über den „Vormärz“ (1830) schließlich zur Revolution 1848/49 geführt. Diese Weltgeschichte fand „en miniature“ Widerhall in vielen klingenden Objekten aus dem Schwarzwald, die als Figurenautomaten bezeichnet werden und im DMM zu sehen sind. Die heute meist nur pittoresk wirkenden kleinen Figurengestalten hatten bei ihrer Entstehung konkrete Zeitbezüge – inspiriert von zeitgenössischen Gemälden, Lithographien und Karikaturen. Die mit Figurenensembles besetzten Spielwerke wurden demnach auch als indirekter „stummer“ Protest in deutschen politischen Kleinstaaten gefertigt.
 
Der gesellschaftliche Standesunterschied in der Zeitmessung hatte sich einst in Material und Technik gezeigt. Uhrwerke aus Metall blieben oberen Schichten vorbehalten, während solche mit Holzplatinen auch für „bescheidene“ Haushalte erschwinglich waren. Mit dem napoleonischen „code civil“ (1807) fielen solche „Luxusbeschränkungen“. Schon im späten 18. Jh. war der Schwarzwald ein Zentrum des Flötenuhrenbaus, der zunehmend gehobene bzw. aufstrebende Mittelschichten bediente. Flötenuhren differieren in der Zahl der Pfeifen und Register sowie der Melodien auf der Stiftwalze. Technische und musikalische Ansprüche in Tonumfang sowie Lautstärke stiegen in der Folgezeit und ebneten so den Weg zum „Orchestrion“. Statistisch stellten Flötenuhren – zudem mit Automatenfiguren besetzt - nur ein Bruchteil der Schwarzwälder Uhrenproduktion dar. So standen 1823 in der Fertigung ungefähr 500 Flötenuhren 500.000 normalen Uhren gegenüber.

Flötenuhr: signiert und datiert. Ignatz Bruder, Simonswald/ i. Br. 1822
Gewichtsaufzug, mechanische Abtastung, bestiftete Walze, 28 Claves, 112 Pfeifen in vier Registern, acht Melodien, 52 Figuren auf zwei Bühnen. H 87 cm B 56 T 44 cm, Inv. Nr. 2006/1007 Foto: DMM

Dies ist vermutlich eine der letzten Uhren, die Ignaz Bruder – einer der wesentlichen Begründer des mechanischen Musikinstrumentenbaus im Schwarzwald - selbst fertigte. Sie soll der Überlieferung nach als eine Hochzeitsgabe entstanden sein. Das Uhrwerk ist wie in der älteren Bauweise im Schwarzwald üblich nicht herausnehmbar, sondern in das Flötengehäuse integriert. Die Zahl von Figuren wie die handwerkliche Ausführung der Uhr besticht: üppige Durchbruchschnitzerei als Schallaustritt, marmorierte korinthische Säulen und Ziergitter aus Messingguss sowie Goldbronzierungen. Dagegen wirkt das Zifferblatt mit römischen und arabischen Zahlen geradezu schlicht. Die obere Ebene hat eine imaginäre Palastarchitektur. Auf dem mittleren „Kreisel“ zieht eine Husarenkapelle von Tor zu Tor. An den Türmen sind Wachen aufgestellt. Die Uhr entstand ein Jahr nach Napoleons Tod. Und es scheint, als ob sie noch einmal die Geschichte Revue passieren lässt, als nach dem Sieg über Russland und Österreich auch in Baden und Württemberg französische Ideen einmarschierten. Die beiden Hochdekorierten auf der oberen Ebene nehmen eine Parade ab, bewegen sich nebeneinander her und machen auf halber Strecke eine Wendung. Die untere Bühne verbreitet städtisches Leben. Auf der Rechten sind vier Automatenfiguren: ein Schlachter mit Rind, ein Schmied am Amboss, ein Schneider und eine Schneiderin beim Nähen. Auf der linken Seite zückt eine Frau den Geldbeutel, schlägt ein Pfeifenraucher Feuersteine aneinander, ein Schuster nagelt Schuhe und schließlich spaltet ein Mann mit Keil und Beil einen Stamm. In der Mitte sind gegenläufige Tanzkreisel montiert. Auf dem inneren drehen sich Paare und Einzelfiguren zum Tanz. Auf dem äußeren reiten Offiziere und Husaren (die an die französische Kaiserliche Garde erinnern) durch das imaginäre Städtchen.
 
Die Figuren erhaltener Schwarzwälder Automatenobjekte differieren in Größe wie technischer Ausführung. Sie lassen Standardisierungen als mechanisches Einzelstück sowie „Spielsoldat“ erkennen: Der Nürnberger Hieronimus Georg Bestelmeier war Pionier des Versandhandels, der bereits 1793-1823 Kataloge herausgab. Jeder Artikel seines „Magazin von verschiedenen Kunst- und anderen nützlichen Sachen, zur lehrreichen und angenehmen Unterhaltung“ war in Kupfer gestochen und beschrieben. Neben Spielzeug, das im Sinne der Aufklärung Technik, Physik, Botanik, Zoologie oder Architektur vermittelte, fanden sich u. a. Kleinmöbel sowie Dekorationsartikel. Auffallend im Sortiment - hölzerne Figuren. Zum einen als Einzelstück in mechanischer Funktion wie Drescherin, Waschfrau, Trommler, Wagner, Kartenspieler, Schnitter, kämpfende Bären etc. Zum anderen als Soldat zu Fuß wie zu Pferde – in französischer, österreichischer, preußischer oder russischer Montur. Genregruppen wie „Kapelle“ oder „Bauernhochzeit“ ergänzten das Sortiment. Auch ein „Ballsaal“ mit einem Figurentanzkreisel war im Angebot. Viele der Artikel wurden um Nürnberg gefertigt. Der größte Teil des Spielzeugs bezog man aber z. B. aus dem Berchtesgadener Land, dem Grödnertal oder dem Erzgebirge.

Annoncen aus: Georg Hieronimus Bestelmeier: Magazin von verschiedenen Kunst- und anderen Nützlichen Sachen etc., „Artikelnummer „589“ und „802“, Nürnberg 1803 (Reprint) Zürich 1979.

Bereits um 1750 stellte man im Schwarzwald Zeitmesser mit Figurenbesatz her. Berichtet wird z. B. von Friedrich Dilger (1712-1773) aus Urach, „der solche in Paris vertrieb, auf denen sich beim Stundenschlag Figuren bewegten.“ Um 1796 gab es etwa „Uhren, welche den Lauf der Sonne, des Mondes und anderer Planeten zeigten […], ein Kapuziner Bruder, der alle Stunde läutet […], eine Schildwache, die geht und ihre ordentliche Wendung machte […], ein Metzger, der alle Stunden auf einen Ochsen schlug […]“ oder „[…], ein Scherenschleifer bei der Arbeit. Über die Fertigung hölzerner Kleinplastiken im Schwarzwald mit Bezug zum Spielwerkebau im frühen 19. Jh. ist wenig bekannt: In den Werkstattbüchern der Firma Bruder (Waldkirch) finden sich z. B. Hinweise auf hinzuarbeitende Figurenschnitzer.
 
Ob die Schwarzwälder Automatenbauer etwa auch auf das Nürnberger Sortiment zurückgriffen ist unklar. Doch Bestelmeiers mechanische Figuren mit Kurbelantrieb konnten an die Mechanik eines Uhrwerkes gekoppelt werden. Merkantile Verbindungen zwischen dem Schwarzwald und der fränkischen Metropole sind denkbar, etwa durch die badischen „Uhrenträger“. Deutlich aber ist, dass hölzerne (mechanische) Figuren um 1800 übliche Handelsware waren.
 
Konkretes existiert bisher nur über den Schnitzer Fidel Heer (1781-1862), der in Vöhrenbach 1808 eine Bildhauerwerkstatt gründete. Neben Kruzifixen und Buchbeschlägen fertigte er Figuren wie z. B. „Kapuziner, Mäher, Metzger etc. für Flötenuhren“. 1858 wird er als „erster Verfertiger beweglicher Figuren für Spieluhren und Drehorgeln aus dem Schwarzwalde“ genannt. Vielleicht begann er aber nur, bereits auf dem Markt bekannte Produkte zu kopieren.
 

Trachtenlithographie von Maria Geiger (1803) aus: Angelika Müllner: Unterfränkische Trachtengrafik, Würzburg 1982. In der Ära politischer und gesellschaftlicher Neuorientierung wurde der Blick auf die eigenen Landesverhältnisse bedeutsam. Die „Schweinfurterin“ entstammt einer Serie von Trachtenbildern, welche das bayerische Königshaus in Auftrag gab, um seine durch die Unterstützung Bonapartes neu erworbenen Gebiete zu dokumentieren. Die Umsetzung dieser Figurine findet sich auch auf Figurenautomaten aus dem Schwarzwald. 
Napoleon trifft Franz II., Kaiser von Österreich, nach der Schlacht von Austerlitz am 4. Dez. 1805 bei Nasiedlowitz (Mähren). Postkarte nach einem Kreidepastell, um 1808 von Pierre Paul Prudhorn (1758-1823). Dies Zusammentreffen wurde auch in zahlreichen Lithographien verbreitet.
Flötenuhr: Sign: „Ignaz Bruderlin Altsimonswald 1816“ Betrieb: Gewichte, Stiftwalze, mech. Abtastung, 22 Claves, Instrumentierung: 83 Pfeifen in 4 Registern, 18 Automatenfiguren, 8 Melodien, Inv. Nr. 88/165

Die Figuren des Objektes weisen wohl auf den Wiener Kongress (1814/15) hin, auf die Unterzeichnung der Schlussakte und das populäre Bild des Treffens als „Diplomatie im Ballsaal“. Auf zwei Bühnen tummeln sich Uniformierte und Musiker, flankieren Tänzer und Herren in Diplomatenfräcken, die um einen Tisch mit Dokumenten gruppiert sind. Die Dame am Spinett auf der oberen Bühne, wirkt in ihrem Empire-Kleid gerade wie Stephanie de Beauharnais, die Gattin des damals amtierenden Großherzogs Karl Friedrich von Baden, dessen Silhouettenschnitt in einem Medaillon am Spieltisch abgebildet scheint. Das elfenbeinfarbene Uhrenschild ist ganz im Stil der Zeit mit Streublumen gestaltet. Doch trotz Säkularisierung und politischem Sturm, wurde über der Zwölf des Zifferblattes ein „IHS“ angebracht - als Kürzel des Namen Jesu. Die bisher nicht identifizierten acht Musiktitel der Stiftwalze geben gängige Tänze der Zeit wieder, die zur vollen Stunde gespielt werden, aber auch einzeln abrufbar sind. Das Standuhrengehäuse ist eine spätere Anfertigung (wohl um 1850), um die Uhr zu schützen, bzw. das Objekt dem Zeitgeschmack anzupassen.

Der große Wiener Friedens-Congres zur Wiederherstellung von Freiheit und Recht in Europa“, kolorierter Kupferstich von J. Zutz, 1814 aus: Marcus Junkelmann: Napoleon und Bayern, Regensburg 1985. 1. Kaiser Franz, (Österreich) 2. Kaiser Alexander (Russland), 3. König von Preußen, 4. Wellington für England, 5. König von Dänemark, 6. König von Bayern, 7. König von Württemberg, 8. Churfürst von Hessen, 9. Herzog von Braunschweig, 10. Talleyrand für Frankreich, 11. „Mediasierte“ Fürsten und Staatsminister (die ihre Souveränität verloren und in andere Staatsgebiete eingegliedert wurden), 12 die „Gerechtigkeit“ (die mit unverbundenen Augen die Verhandlungen verfolgt).

Das einmal zeitgeschichtliche “Memorablia”, wie die hier beschrieben Figurenautomaten aus dem Schwarzwald vom Beginn des 19. Jahrhunderts, aus dem ukrainisch-russischen Konflikt zurückbleiben werden, zeichnet sich bereits ab. Nicht nur, dass auf der E-Commerce-Website bzw. Online-Marktplatz „Etsy“ für den Kauf und Verkauf von handgemachten Produkten, Vintage und Künstlerbedarf bereits Schlüsselanhänger, gefertigt aus dem Metall erbeuteter russischer Waffen, mit ukrainischen Losungen angeboten werden.  Abschließend hier ein Bericht der „Australia - ABC News (Australian Broadcasting Corporation) vom 15.März 2023, der sinngemäß übersetzt meldet:
 
Der ukrainische Schmied Viktor Mikhalev aus der von Russland kontrollierten ostukrainischen Stadt Donezk schlägt auf seine Weise „Schwerter zu Pflugscharen“, verwandelt Schrot in Kunst. Mikhalevs Heimat der Donbass ist seit 2014 Schauplatz von Konflikten. Als gelernter Schweißer, lebt und arbeitet in einem Haus, dessen Zaun und Tür traditionell mit falschen Blumen und Weintrauben geschmückt werden. In seiner Werkstatt stapeln sich kaputte Maschinengewehre und Granaten von der Frontlinie, die ihm Freunde und Bekannte bringen. Der Geruch von Eisen und Farbe hängt in seiner Werkstatt, die an den Wänden mit Dutzenden religiöser Ikonen geschmückt ist. Er formt aus dem Militärschrott „Kriegsblumen“, als Andenken an den Krieg in der Ostukraine. „Echte Blumen werden nicht lange halten, und meine Rosen werden zu einem Erinnerungszeichen für ein langes Gedächtnis“, sagt der Schmied.